Wer braucht schon Kanji?

漢字! Kanji! Wohl mit eine der größten Hürden, die es zu bewältigen gibt, wenn man sich die japanische Sprache aneignen will. Kanji sind schön, Kanji sind mysteriös, Kanji sind praktisch, Kanji bringen einen zum Verzweifeln, Kanji sind nützlich, Kanji sind furchtbar… Es gibt viel, was man über die chinesischen Schriftzeichen, die im Japanischen verwendet werden, sagen kann. Man kann sie lieben, sie hassen, oder sie einfach akzeptieren. Was aber ist die „richtige“ Antwort auf die Frage: Wer braucht schon Kanji?

Viele Kurse und Bücher verzichten zunächst voll auf Kanji. Statt dessen wird zunächst nur in Romaji gelehrt, und irgendwann auf Hiragana und Katakana erweitert. Die Kanji sind einfach zu schwer und zu viele, als daß man einen Lernanfänger sofort damit konfrontiert. Nicht wahr? – Falsch! Meiner Meinung nach. Ich möchte kurz von meiner eigenen Erfahrung erzählen, damit sich jeder ein Bild davon machen und eine eigene Meinung bilden kann, ob und wann für ihn oder sie die richtige Zeit ist, Kanjis zu lernen, oder eben nicht.

Wie eben erwähnt, habe auch ich mein Selbststudium der japanischen Sprache angefangen, während ich auf Kanji weitgehend verzichtet habe. Zwar war ich von der Schönheit dieser Zeichen, die jedem Text etwas mystisches geben – selbst wenn es sich nur um eine Einkaufsliste oder Waschanleitung handelt – von Anfang an fasziniert, doch schien es ein auswegloses Unterfangen, diese komplexen Zeichen in ihrer Fülle (für den Alltag ist ein Grundrepertoire von über 2000 Zeichen nötig!) jemals erfassen zu können. Getrieben von der Ungeduld, schnelle Erfolge erzielen zu wollen, beschränkte ich mich darauf, mit Hiragana und Katakana auszukommen. Diesen Schritt sollte man so früh wie möglich machen, und die Welt der Romaji verlassen, da die vielen ähnlichen Laute kaum zu unterscheiden sind, sobald man jedoch die Silbenschrift verwendet, werden die Unterschiede schneller deutlich und sind leichter zu behalten.

Doch genügt das? Um ehrlich zu sein: Nein. Japanisch ist gespickt mit Homonymen, was es auch so schwer macht, diese Sprache passiv zu lernen, indem man ihr einfach ausgesetzt ist. In anderen Sprachen, wie beispielsweise Englisch oder Französisch, kann man in der Regel davon ausgehen, daß (fast) alles, was man hört, eine eigene Bedeutung hat. Im Japanischen gilt das leider nicht, und so können gleich klingende Wort zig verschiedene Bedeutungen tragen. Hier helfen die Kanji aus.

Was bedeutet „kami“ かみ? 

  1. かみ: 紙 = Papier
  2. かみ: 神 = Gott
  3. かみ: 髪 = Haar

Ein Beispiel, welches sich in mein Gedächtnis eingebrannt hat. Während einer Unterhaltung mit einer Freundin, erzählte mir davon, daß sie gerne Umziehen möchte. Allerdings sei der richtige Zeitpunkt noch nicht gekommen. Sie sprach von ihrem Freund und sagte mir:

「かれはくるまでまつ。」

 Was bedeutet das? Ich hörte folgendes:

「かれが車で待つ。」 – „Er wartet im Auto.“ Ich fragte mich, von welchem Auto sie spräche, und warum er dort warten sollte, da ich den Sinn dieser Aussage nicht erfassen konnte. Doch sie klärte auf, was sie tatsächlich gesagt hatte:

「かれが来るまで待つ。」 – „Ich warte, bis er kommt.“ – Phonetisch sind diese beiden Sätze nahezu identisch, und eine Schreibweise in Hiragana machen den Unterschied zunichte. Zu diesem Punkt wünschte ich mir, daß man auch in Kanji spräche, um derartige Mißverständnisse zu vermeiden.(Der spitzfindige Leser mag hierbei nun kritisieren, daß wie schon angedeutet, in einer Konversation mir Kanji auch nicht weitergeholfen hätten, oder daß bei ausreichend fortgeschrittenem Level der Kontext und die Grammatik möglicherweise den Unterschied noch verdeutlicht hätten. Dem kann ich nur entgegnen: Solche Situationen kann man auch antreffen, wenn man nicht spricht, sondern Mails, Briefe, Bücher oder sonstwas schreiben bzw. lesen will. Und solange man noch kein Meister der japanischen Sprache ist, ist es meiner Meinung nach schwer oder teilweise unmöglich, grammatikalische Details genau genug oder schnell genug zu erörtern.)

Dies sollte nur ein Beispiel sein, bei dem Kanji geholfen hätten, den Sinn deutlicher zu machen. Da im japanischen in der Regel keine Trennung zwischen den einzelnen Wörtern existiert, sondern alles in einem fort durchgeschrieben wird, sind Kanji eine große Hilfe, um einen Text einfacher und flüssiger lesen zu können. Hier komme ich auch gleich zu meiner zweiten Hauptmotivation, Kanji verstehen können zu wollen. Das Lesen! Anfangs ist man stolz mit den beiden Silbenalphabeten, und freut sich, wenn man tatsächlich an einem Laden ein Schild mit der Aufschrift うどん oder ラーメン lesen kann. Allerdings sind das nur sehr wenige Ausnahmen. Ohne Kanji-Kenntnisse läuft man durch Japan wie ein Analphabet. Jedes Schild, jede Anzeige, jede Nachricht oder jede Speisekarte erscheint einem in unentzifferbaren Hieroglyphen. Sobald man seine ersten Gehversuche in dieser Kultur macht, wird man noch genug mit vielen neuen Aspekten beschäftigt sein, um sich an diesem Umstand – diesem Mißstand – nicht zu sehr zu stören. Doch sobald man tiefer Einblicken möchte, mehr verstehen möchte, sind Kanji einfach unumgänglich.

Dies führt auch direkt zu meiner Antwort auf die Anfangs gestellte fragen. Wer Kanji braucht? Jeder, der sich wirklich eindringlich und tiefgehend mit der japanischen Sprache (und Kultur?) beschäftigen möchte. Wer also lediglich genug Japanisch lernen möchte, um bei einer Reise in dieses Land eine gewisse Grundkommunikation beherrschen möchte, kann getrost auf Kanji verzichten. Für diesen Fall sind schnelle Erfolge wichtig. Hierzu empfehle ich einen nach Themen sortierten Sprachführer, wie beispielsweise Kauderwelsch, Japanisch Wort für Wort der Wert darauf legt, den Reisenden schnell mit den wichtigsten Redewendungen vertraut zu machen. Selbst wenn man den Namen einer Sehenswürdigkeit, eines Hotels, oder des Bahnhofs, den man sucht, nicht auf einem Schild lesen kann, wird man mit grundsätzlichen Sprachkenntnissen doch irgendwie zum Ziel kommen, wenn man sich einfach durchfragt. Hier sind schnelle Erfolge gefragt, und wichtiger als ein eindringliches Studium der japanischen Sprache.

Wer allerdings ernsthaft das Ziel hat, diese Sprache in ihrer Ganzheit zu begreifen, dem lege ich ans Herz, von Anfang an damit zu beginnen, auch die nötigen Kanji zu lernen. Kanji sind ein essentieller Bestandteil der Sprache, und unverzichtbar, um wirklich Japanisch zu lernen. Ich selbst mußte leider schmerzlich die Erfahrung machen, daß es sich später rächt, wenn man zu lange damit wartet. Die Lücke zwischen dem Sprech-Level und dem Lese-Level wird zu groß, und es ist sehr schwer, dies nachträglich aufzuholen und zu füllen. Um die Nuancen der Sprache wirklich begreifen zu können, sind Kanji nicht nur hilfreich, sondern unverzichtbar. Zunächst sind die Zeichen mit ihren vielen Strichen und komplexen Formen zwar vielleicht abschreckend, aber sie helfen ungemein beim Verständnis neuer gelernter Wörter, und beim Erkennen und Lesen.Es sind zwar sehr viele Zeichen, die man studieren muß, aber in jeder anderen Sprache fängt man auch damit an, zunächst einmal das Alphabet lesen zu können. Wer zum Beispiel Französisch lernt, muß sich beispielsweise auch mit den Unterschieden zwischen é, è und ê auseinandersetzen, anstatt einfach nur „e“ zu schreiben. Im Japanischen ist es nicht anders. Darum appeliere ich an alle, die wirklich Japanisch lernen wollen: Habt keine Angst vor den Kanji, stellt Euch der Herausforderung so früh wie möglich, es wird sich auf jeden Fall lohnen!

Zum Abschluß noch ein meiner Meinung nach sehr guter Buchtipp: Basic Kanji Book: 1 Dieses Buch hebt sich dadurch von den unzählichen anderen Büchern ab, daß es nicht nur Wortlisten beinhaltet, sondern sehr gute Übungen, kurze Texte, die die neu gelernten aufeinander aufbauend verwenden, und vor allem sehr nützliche Kanji, die man im Alltag sehr häufig antrifft. Andere Bücher oder Kurse gehen oft nach dem Schulsystem vor, nach dem die Kinder in Japan von der ersten bis zur sechsten Klasse (!) den natürlichen Umgang mit den grundlegenden rund 2000 Kanji lernen. Für einen Neuling der japanischen Sprache ist meiner Meinung nach der Ansatz in diesem Buch besser geeignet, da besonders eine regelmäßige Verwendung der neu gelernten Materialien hilft, sich die Schriftzeichen besser merken zu können, wenn man ihnen im Alltag begegnet.

Viel Spaß und Erfolg an alle Lernenden. お互い頑張ろう!

5 Antworten auf „Wer braucht schon Kanji?“

  1. Kann deinem Resümee über die Kanji nur anschliessen. Jedoch ein wichtiger Zusatz, man sollte sich sehr bewusst sein, wieviel Japanisch man benötigt. Als Tourist, wie ich es bin, der jeweils nur eine sehr überschaubare Zeit in Japan verbringt, ist der Zeitaufwand im Verhältnis zum Nutzen sehr Gross.

    "Alle die wirklich Japanisch lernen wollen" genau hier muss man sich hinterfragen. Wer nicht in Japan lebt, oder arbeitet sollte es sich genau überlegen ob der Kraftakt von Katakana, Hiragana und Kanji sinnvoll ist.

    Wer sich einfach nur ein Grundvokabular aneignen will, ist mit dem oft geschmähten Romaji besser bedient. Der von Dir genannte Kauderwelsch – Sprachführer ist dabei sehr zu empfehlen. Das beste was mir bis jetzt untergekommen ist, und ich habe einiges im Bücherregal stehen. Man bekommt ein gutes Rüstzeug um sich als Tourist in Japan zu bewegen.

    So interessant und wünschenswert das erlernen der japanischen Sprache, mit Kanji und Co. für die meisten von uns tut es ein gutes Grundvokabular.

  2. Hallo,

    sehr interessanter Beitrag, aber durch das Hintergrundbild leider kaum lesbar. Mein Tipp: Text auf weißem Grund und die Kirschblüten nur links und rechts bzw. als Banner/Logo ganz oben.

  3. Hi, habe mir gerade deinen Text durchgelesen und finde ihn sehr informativ. Ich selber bin mitten einem "Selbst Studium" wenn ich das mal so sagen darf. Ich habe bereits die Kana vollständig drauf bis auf ein paar (1-2) kleine Ausrutscher. Und über die Grammatik weiß ich auch bereits einen kleinen Bruchteil. Jetzt stehe ich allerdings irgendwie in einem "Loch". Immer wieder und wieder bekomme ich zu hören, dass ein Selbst Studium nichts bringen würde und ich ja eh meine Zeit damit verschwende… Ich bin zwar 100% anderer Meinung. Aber trotzdem, fange ich leider selber an zu zweifeln. Hast du vielleicht einen Tipp, wie ich meine "Motivation" wieder erlangen kann? Mfg

  4. Hallo,
    keine Sorge, in ein Lern-Loch fällt man mal ganz leicht. Ich kann Dir nur sagen, dass Selbst-Studium sehr wohl etwas bringt. Ich habe fast ausschließlich so gelernt, und es klappt prima. Zur Motivation hilft auf jeden Fall: Tandempartner suchen, Filme/Serien anschauen, und am besten einfach ab und zu rüber fliegen und vor Ort sich freuen, was man schon nutzen kann. Am meisten hilft es tatsächlich, mit Japanischen Freunden zu sprechen, viel zu fragen, und dein Japanisch einfach zu nutzen. Dann hast Du Erfolgserlebnisse! Nicht aufgeben, auch wenn es manchmal schwer ist. Freu DIch einfach über das, was Du schon kannst, ohne Dir zu großen Druck zu machen. Hab keine Angst, es zu nutzen oder Fehler zu machen, dabei lernt man am meisten. 頑張ってね! 😉

  5. Danke für deine Antwort. Irgendwie hat es mir echt geholfen. Es kam echt von allen Seiten (Bekanntenkreis, Fmailie usw.) nur schlechtes. Ich werde mich jetzt wieder ran machen. ありがとうございます。:)

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